Tempel aus Glas

 

Das Mädchen steht im Bad und schaut in den dreiteiligen Spiegel des Spielgeschränkchens.
Sie sieht sich an, wie sie ist.
Gefärbte, aufwendig gestylte Haare, blasses Make-up, schwarzer, kunstvoller Eyeliner um die Augen, die sich nicht entscheiden können, welche Farbe sie haben sollen. Vielleicht weil sie wissen, dass keine Farbe das Mädchen glücklich machen würde.
Das Mädchen spürt Wut in sich aufsteigen, Wut, Trauer, Einsamkeit. Sie nimmt ein Wattepad und wischt sich die ganze verdammte Schminke aus dem Gesicht. Die Maskara läuft in ihre Augen und brennt, das stört sie nicht. Sie nimmt die Haarnadeln aus ihrer Frisur, die schwarz-weißen Haare fallen in ihr Gesicht. Sie nimmt eine Haarbürste und kämmt sie zurück.
Sie sieht sich an, wie sie ist.
Blasse, zerkratzte Haut, leere Augen, strähniges Haar. Das ist sie wirklich, aber niemand sieht sie so. Sie war allein im Haus, nur ihr Hund und ihre Katzen waren da.
Sie geht durch das Wohnzimmer, den auf dem Sessel schlafenden Hund sieht sie nicht an. In ihrem Zimmer wirft sie sich auf das Bett. Eiskalte Tränen laufen über ihr Gesicht. Ihr Herz krampft, weigert sich zu schlagen.
So zieht ihr Handy aus der Hosentasche, nichts neues. Sie startet ihr Notebook, keine neuen Nachrichten, keine neuen E-mails. Die Tränen wollen nicht aufhören zu fliesen. Die bittere Wahrheit schwärzt ihre Seele noch mehr, ihr Engel wird ihr nicht verzeihen. Sie hat ihren Engel verloren, jetzt ist sie sich sicher.
Sie nimmt den Brief, die Konzertkarte und die Rosen, das ist alles, was sie von ihrem Engel hat. Sie geht nach unten in die Küche und verbrennt, was sie geliebt hat. Was übrig bleibt füllt sie in ein Glas.
Asche zu Asche, Staub zu Staub.
Sie muss ihren Engel vergessen. Niemals wird sie ihn wieder verwöhnen dürfen, niemals wird er flüstern Ich liebe dich.
Aber sie ist ja auch selbst schuld. Das Herz ihres Engels war ein Tempel aus Kristall, einmal zerbrochen nicht wieder zusammenzufügen. Sie tippt wieder eine SMS, sie bittet um Vergebung, doch sie macht sich keine Hoffnung, dass sie jemals eine Antwort erhalten wird.
Die Sehnsucht in ihr ist wieder wach, die Sehnsucht zu gehen. Wer lebt wird gehasst und verletzt, doch wer tot ist, der wird geliebt und vermisst. Wenn sie sterben würde, würde ihr Engel das sicher mitbekommen, wenn er erfährt, dass sie sich umgebracht hat, wird er sich vielleicht daran erinnern, dass er sie liebt.
Es wird dunkel, die Straßenlaternen gehen an, sie liegt auf ihrem Bett und wartet. Sie wartet auf irgendein Zeichen von ihrem Engel. Doch nichts geschieht.
Sie verringert ihre Atemfrequenz. Sie verlangsamt ihren Herzschlag und dann spricht sie den Befehl aus.
Hör auf, du hast deiner Arbeit genüge getan.
Und ihr Herz bleibt stehen, einfach so. Es befolgt den Befehl des Mädchens.
Sie schließt ihre Augen, die keine Farbe haben und geht.
Ihr Handy, das sie immer noch in der Hand hält leuchtet auf einmal auf. Eine schöne Melodie setzt ein. Sie kann nicht mehr mitbekommen, wie ihr Engel schreibt.

Ich verstehe dich nicht, ich kann dich nicht verstehen, aber ich liebe dich. Ich verzeihe dir, alles was du je getan hast. Nur bitte verlass mich nicht. Ich kann nicht ohne dich. Du bist das beste was mir je passieren konnte. Ich kann dir nicht böse sein. Ich will dich, nur dich. Bitte verlass mich nicht.

 

Armes Mädchen ...